Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Robert Louis Stevenson (Autor), Denis Metzger (Übersetzer)

Inhaltsangabe

Kapitel 8 Die Letzte Nacht

Mr. Utterson saß eines Abends nach dem Essen an seinem Kamin, als er, zu seiner Überraschung, Besuch von Poole erhielt.

»Meine Güte, Poole, was führt Sie her?«, rief er, und als er ihn ein zweites Mal ansah fügte er hinzu: »Was haben Sie denn? Ist der Doktor krank?«

»Mr. Utterson«, sagte der Mann, »es ist etwas nicht in Ordnung.«

»Setzen Sie sich, und hier ist ein Glas Wein für Sie«, sagte der Anwalt. »Lassen Sie sich Zeit und sagen Sie mir ganz offen, was los ist.«

»Sie kennen die Art des Doktors, Sir«, antwortete Poole, »und wie er sich verschließt. Nun, er hat sich wieder im Kabinett eingeschlossen, und das gefällt mir nicht. Mr. Utterson, Sir, ich habe Angst.«

»Nun, mein guter Mann«, sagte der Anwalt, »seien Sie deutlich. Wovor haben Sie Angst?«

»Ich habe seit etwa einer Woche Angst«, erwiderte Poole, die Frage ignorierend, »und ich kann es nicht mehr ertragen.«

Die Erscheinung des Mannes bestätigte seine Worte. Sein Verhalten hatte sich zum Schlechten verändert, und bis auf den Moment, in dem er seine Angst kundgetan hatte, hatte er dem Anwalt nicht einmal ins Gesicht gesehen. Auch jetzt saß er mit dem vollen Weinglas auf dem Knie und richtete seinen Blick auf eine Ecke des Fußbodens. »Ich kann es nicht mehr ertragen«, wiederholte er.

»Kommen Sie«, sagte der Anwalt, »ich sehe, dass Sie einen guten Grund haben, Poole. Ich sehe, dass etwas ernsthaft nicht stimmt. Versuchen Sie mir zu sagen, was es ist.«

»Ich glaube, es wurde ein Verbrechen begangen«, sagte Poole mit heiserer Stimme.

»Ein Verbrechen!«, rief der Anwalt, ziemlich erschrocken und infolgedessen etwas irritiert. »Was für ein Verbrechen! Was meinen Sie damit?«

»Das wage ich nicht zu sagen, Sir«, lautete die Antwort, »aber wollen Sie mit mir kommen und es selbst sehen?«

Mr. Uttersons Antwort bestand darin, aufzustehen und seinen Hut und seinen Mantel zu holen. Er beobachtete mit Verwunderung, wie groß die Erleichterung auf dem Gesicht des Butlers war, und mit nicht weniger Verwunderung, dass der Wein immer noch nicht gekostet war, als er ihn absetzte, um ihm zu folgen.

Es war eine wilde, kalte Märznacht, mit einem blassen Mond, der auf dem Rücken lag, als hätte der Wind ihn umgeworfen. Der Wind erschwerte das Sprechen und trieb ihnen das Blut ins Gesicht. Außerdem schien er die Straßen ungewöhnlich leergefegt zu haben, denn Mr. Utterson glaubte, diesen Teil Londons noch nie so menschenleer gesehen zu haben. Er hätte es sich anders wünschen können. Noch nie in seinem Leben hatte er einen so starken Wunsch verspürt, seine Mitmenschen zu sehen und zu berühren; denn so sehr er sich auch abmühte, es drängte sich ihm eine erdrückende Vorahnung des Unheil auf.

Als sie ankamen, war der Platz voll Wind und Staub, und die dünnen Bäume im Garten peitschten sich am Geländer entlang. Poole, der den ganzen Weg über ein oder zwei Schritte vorausgegangen war, hielt nun mitten auf dem Bürgersteig an, nahm trotz des beißenden Wetters seinen Hut ab und wischte sich mit einem roten Taschentuch über die Stirn. Aber trotz der Eile, mit der er gekommen war, war es nicht der Tau der Anstrengung, den er abwischte, sondern die Feuchtigkeit einer erstickenden Qual; denn sein Gesicht war weiß und seine Stimme rau und gebrochen.

»Nun, Sir«, sagte er, »hier sind wir, und Gott bewahre, dass nichts passiert ist.«

»Amen, Poole«, sagte der Anwalt.

Daraufhin klopfte der Diener verhalten. Die Tür wurde an der Kette geöffnet, und eine Stimme fragte von drinnen: »Sind Sie das, Poole?«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Poole. »Öffnen Sie die Tür.«

Als sie eintraten, war die Halle hell erleuchtet. Das Feuer war hoch aufgeschichtet, und um die Feuerstelle standen alle Bediensteten, Männer und Frauen, zusammengekauert wie eine Schafherde. Beim Anblick von Mr. Utterson brach das Hausmädchen in hysterisches Wimmern aus, und die Köchin rief: »Gott sei Dank, es ist Mr. Utterson«, und rannte vorwärts, als wollte sie ihn in die Arme nehmen.

»Was? Sind Sie alle hier?«, sagte der Anwalt. »Äußerst unpassend, äußerst ungeziemend; Ihr Herr wäre alles andere als erfreut.«

»Sie haben alle Angst«, sagte Poole.

Blankes Schweigen folgte; niemand protestierte. Nur das Dienstmädchen erhob die Stimme und weinte nun laut.

»Hüte deine Zunge!« sagte Poole mit scharfem Ton, der von seinen eigenen zerrütteten Nerven zeugte. Und in der Tat, als das Mädchen so plötzlich den Ton ihres Wehklagens erhöht hatte, waren sie alle aufgestanden und hatten sich mit Gesichtern schrecklicher Erwartung zur inneren Tür gewandt.

»Und nun«, fuhr der Butler fort und wandte sich an den Messerjungen, »reiche mir eine Kerze, und wir werden das sofort in die Hand nehmen.« Er bat Mr. Utterson, ihm zu folgen, und führte ihn in den hinteren Garten.

»Kommen Sie so vorsichtig, wie Sie können. Ich will, dass Sie hören, und ich will nicht, dass Sie gehört werden. Und sehen Sie, Sir, wenn er Sie zufällig hereinbitten sollte, gehen Sie nicht.«

Mr. Uttersons Nerven erfuhren bei dieser unerwarteten Beendigung einen Ruck, der ihn fast aus dem Gleichgewicht brachte. Aber er nahm seinen Mut wieder zusammen und folgte dem Butler in das Laborgebäude, durch den Operationssaal, mit seinem Gerümpel von Kisten und Flaschen, bis zum Fuß der Treppe. Hier wies Poole ihn an, sich auf die Seite zu stellen und zuzuhören, während er selbst, die Kerze abstellend und seine Entschlossenheit deutlich herausfordernd, die Stufen hinaufstieg und mit etwas unsicherer Hand an den roten Fries der Tür klopfte.

»Mr. Utterson, Sir. Er möchte Sie sprechen«, rief er, und während er dies tat, gab er dem Anwalt noch einmal eindringlich zu verstehen, ihm Gehör zu schenken.

Eine Stimme antwortete von drinnen: »Sagen Sie ihm, ich kann niemanden empfangen«, sagte sie klagend.

»Danke, Sir«, sagte Poole mit einem Hauch von Triumph in der Stimme, nahm seine Kerze und führte Mr. Utterson über den Hof zurück in die große Küche, wo das Feuer erloschen war und die Käfer auf dem Boden herumsprangen.

»Sir«, sagte er und schaute Mr. Utterson in die Augen, »war das die Stimme meines Herrn?«

»Sie scheint sich sehr verändert zu haben«, antwortete der Anwalt und warf einen Blick zurück.

»Verändert? Nun, ja, ich glaube schon«, sagte der Butler. »Bin ich zwanzig Jahre im Hause dieses Mannes gewesen, um mich über seine Stimme zu täuschen? Nein, Sir. Der Herr wurde umgebracht. Er wurde vor acht Tagen umgebracht, als wir ihn den Namen Gottes schreien hörten, und wer an seiner Stelle da drin ist, und warum er dort bleibt, das ist eine Sache, die zum Himmel schreit, Mr. Utterson!«

»Das ist eine sehr seltsame Geschichte, Poole. Eine ziemlich wilde Geschichte, mein Freund«, sagte Mr. Utterson und biss sich in den Finger. »Angenommen, es wäre so, wie Sie vermuten. Angenommen, Dr. Jekyll wäre ... nun, ermordet worden. Was könnte den Mörder veranlassen zu bleiben? Das ist nicht stichhaltig; es ist nicht vernünftig.«

»Mr. Utterson, Sie sind ein schwer zufriedenzustellender Mann, aber ich werde es trotzdem tun«, sagte Poole. »Die ganze letzte Woche (Sie müssen es wissen) hat er, oder es – was auch immer es ist, das in diesem Kabinett lebt –, Tag und Nacht nach irgendeiner Art von Medizin verlangt. Es war manchmal seine Art – also die des Herrn – seine Befehle auf ein Blatt Papier zu schreiben und es auf die Treppe zu werfen. Wir haben diese Woche nichts anderes zurückbekommen. Nichts als Papiere und eine geschlossene Tür, und die Mahlzeiten, die dort gelassen wurden, um sie hineinzuschmuggeln, wenn niemand hinsah. Jeden Tag, ja, sogar zwei- und dreimal am selben Tag, gab es Bestellungen und Beschwerden, und ich wurde zu allen Großapotheken der Stadt geschickt. Jedes Mal, wenn ich das Zeug zurückbrachte, kam ein weiterer Zettel mit der Aufforderung, es zurückzugeben, weil es nicht rein sei, und eine weitere Bestellung bei einem anderen Geschäft. Dieses Medikament wird bitterböse gesucht, Sir – wozu auch immer.«

»Haben Sie irgendwelche dieser Papiere?«, fragte Mr. Utterson.

Poole tastete in seiner Tasche und holte einen zerknitterten Zettel hervor, den der Anwalt, der sich näher an die Kerze beugte, sorgfältig untersuchte. Sein Inhalt lautete wie folgt:

»Dr. Jekyll entbietet den Herren Maw seine besten Wünsche. Er versichert ihnen, dass ihre letzte Probe unrein und für seine gegenwärtigen Zwecke völlig unbrauchbar ist. Im Jahre 18- kaufte Dr. J. eine etwas größere Menge von den Herren M. Er bittet sie nun, mit größter Sorgfalt zu suchen, und sollte noch etwas von derselben Qualität übrig sein, ihm diese sofort zukommen zu lassen. Die Kosten spielen dabei keine Rolle. Die Bedeutung dieser Angelegenheit für Dr. J. kann kaum überschätzt werden.«

Bis jetzt war der Brief ruhig verlaufen, aber hier brach mit einem plötzlichen Spucken der Feder die Erregung des Schreibers hervor. »Um Gottes willen«, fügte er hinzu, »finden Sie mir etwas von dem Alten.«

»Das ist eine seltsame Notiz«, sagte Mr. Utterson. »Wie kommen Sie dazu, sie zu öffnen?«

»Der Mann bei Maws war sehr verärgert, Sir, und er hat ihn mir zurückgeworfen wie ein Stück Dreck«, erwiderte Poole.

»Das ist zweifellos die Hand des Doktors; ist Ihnen das klar?«, fuhr der Anwalt fort.

»Ich dachte, es sähe so aus«, sagte der Diener etwas beleidigt. »Aber was macht die Hand des Schreibens aus?« sagte er. »Ich habe ihn gesehen!«

»Ihn gesehen?« wiederholte Mr. Utterson. »Und?«

»Das war’s!« sagte Poole. »Es war in dieser Richtung. Ich kam plötzlich aus dem Garten in den Operationssaal. Es scheint, dass er sich hinausgeschlichen hatte, um nach dieser Droge oder was auch immer zu suchen; denn die Tür zum Kabinett stand offen. Und da stand er am anderen Ende des Raumes und wühlte in den Kisten. Er sah auf, als ich hereinkam, stieß eine Art Schrei aus und stürzte die Treppe hinauf ins Kabinett. Ich sah ihn nur eine Minute lang, aber die Haare standen mir wie Stacheln auf dem Kopf. Herr, wenn das mein Herr war: warum hatte er dann eine Maske auf dem Gesicht? Wenn es mein Herr war: warum schrie er dann wie eine Ratte und lief vor mir davon? Ich habe ihm lange genug gedient. Und dann ...« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Das sind alles sehr merkwürdige Umstände«, sagte Mr. Utterson, »aber ich glaube, ich beginne, das Tageslicht zu sehen. Ihr Herr, Poole, ist offensichtlich von einer jener Krankheiten befallen, die den Leidenden sowohl quälen als auch entstellen. Daher, soviel ich weiß, die Veränderung seiner Stimme; daher die Maske und das Meiden seiner Freunde; daher sein Eifer, dieses Mittel zu finden, durch das die arme Seele eine gewisse Hoffnung auf endgültige Genesung behält – Gebe Gott, dass er sich nicht täuschen läßt! Das ist meine Erklärung. Sie ist traurig genug, ja, und entsetzlich zu betrachten. Aber sie ist einfach und natürlich, passt gut zusammen und befreit uns von allen übertriebenen Alarmen.«

»Sir«, sagte der Butler und wurde etwas blass, »das Ding war nicht mein Herr, und das ist die Wahrheit. Mein Herr«, er sah sich um und begann zu flüstern, »ist ein großer, gut gebauter Mann, und das hier war eher ein Zwerg.«

Utterson versuchte zu protestieren.

»O, Sir«, rief Poole, »glauben Sie, ich kenne meinen Herrn nach zwanzig Jahren nicht? Meinen Sie, ich wüsste nicht, wo sein Kopf in der Kabinettstür auftaucht, wo ich ihn jeden Morgen meines Lebens gesehen habe? Nein, Sir, das Ding in der Maske war niemals Dr. Jekyll – Gott weiß, was es war –, aber es war niemals Dr. Jekyll. Und es ist die Überzeugung meines Herzens, dass ein Mord geschehen ist.«

»Poole«, erwiderte der Anwalt, »wenn Sie das sagen, wird es meine Pflicht sein, mich zu versichern. So sehr ich die Gefühle Ihres Herrn schonen möchte, so sehr mich diese Notiz, die zu beweisen scheint, dass er noch lebt, verwirrt, so sehr werde ich es für meine Pflicht halten, diese Tür einzubrechen.«

»Ah, Mr. Utterson, das klingt gut!«, rief der Butler.

»Und jetzt kommt die zweite Frage«, fuhr Utterson fort: »Wer wird es tun?«

»Sie und ich, Sir«, lautete die unerschrockene Antwort.

»Das ist sehr gut gesagt«, erwiderte der Anwalt, »und was auch immer dabei herauskommt, ich werde dafür sorgen, dass Sie nicht zu den Verlierern gehören.«

»Im Operationssaal gibt es eine Axt«, fuhr Poole fort, »und Sie könnten den Küchenschürhaken für sich selbst nehmen.«

Der Anwalt nahm das grobe, aber gewichtige Instrument in die Hand und wog es aus. »Wissen Sie, Poole«, sagte er und blickte auf, »dass Sie und ich dabei sind, uns in eine gefährliche Lage zu bringen?«

»Das können Sie wohl sagen, Sir«, erwiderte der Butler.

»Dann ist es nur recht, dass wir offen und ehrlich sind«, sagte der andere. »Wir denken beide mehr, als wir sagen. Lasst uns reinen Tisch machen. Diese maskierte Gestalt, die Sie gesehen haben, haben Sie sie erkannt?«

»Nun, Sir, es ging so schnell, und das Wesen war so verdreht, dass ich das kaum beschwören kann«, war die Antwort. »Aber wenn Sie meinen, ob es Mr. Hyde war – ja, ich glaube er war es! Sehen Sie, es war genauso groß und hatte die gleiche schnelle, leichte Art, und wer sonst hätte durch die Labortür eindringen können? Sie haben doch nicht vergessen, Sir, dass er zur Zeit des Mordes den Schlüssel noch bei sich hatte? Aber das ist noch nicht alles. Ich weiß nicht, Mr. Utterson, ob Sie diesem Mr. Hyde jemals begegnet sind?«

»Ja«, sagte der Anwalt, »ich habe einmal mit ihm gesprochen.«

»Dann wissen Sie sicher so gut wie wir alle, dass dieser Herr etwas Seltsames an sich hatte. Etwas, das einem Mann eine Wendung verpasst – ich weiß nicht recht, wie ich es beschreiben soll, Sir – außer, dass man sich in seinem Mark irgendwie kalt und dünn fühlte.«

»Ich gebe zu, ich fühlte etwas von dem, was Sie beschreiben«, sagte Mr. Utterson.

»Ganz recht, Sir«, erwiderte Poole. »Als dieses maskierte Ding wie ein Affe zwischen den Chemikalien hervorsprang und in das Kabinett peitschte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. O, ich weiß, es ist kein Beweis, Mr. Utterson; dafür bin ich buchkundig genug, aber ein Mann hat seine Gefühle, und ich gebe Ihnen mein Bibelwort, es war Mr. Hyde!«

»Aye, aye«, sagte der Anwalt. »Meine Befürchtungen gehen in die gleiche Richtung. Das Böse, fürchte ich, hat sich aus dieser Verbindung ergeben – das Böse musste kommen. Ja, wahrhaftig, ich glaube Ihnen. Ich glaube, der arme Henry ist tot. Und ich glaube, sein Mörder (zu welchem Zweck, kann nur Gott allein sagen) lauert noch immer im Zimmer seines Opfers. Nun, unser Name soll Rache sein. Ruft Bradshaw.«

Der Lakai kam auf die Aufforderung hin; sehr bleich und nervös.

»Nehmen Sie sich zusammen, Bradshaw«, sagte der Anwalt. »Ich weiß, dass diese Spannung Ihnen allen zu schaffen macht, aber wir haben die Absicht, ihr ein Ende zu setzen. Poole und ich werden uns den Weg ins Kabinett bahnen. Wenn alles gut geht, sind meine Schultern breit genug, um die Schuld zu tragen. In der Zwischenzeit müssen Sie und der Junge, für den Fall, dass etwas schiefgeht oder ein Übeltäter versucht auf der Rückseite zu entkommen, mit ein paar guten Stöcken um die Ecke gehen und an der Tür zum Laboratorium Stellung beziehen. Wir geben euch zehn Minuten, um auf eure Posten zu gehen.«

Als Bradshaw ging, schaute der Anwalt auf seine Uhr. »Und jetzt, Poole, gehen wir auf unsere«, sagte er und nahm den Schürhaken unter den Arm, um in den Hof zu gehen.

Tief treibende Wolken hatten sich über den Mond gelegt, und es war jetzt ziemlich dunkel. Der Wind, der nur in Böen und Luftzügen in das tiefe Gebäude eindrang, warf das Licht der Kerze auf ihren Schritten hin und her, bis sie in den Schutz des Operationssaals kamen, wo sie sich schweigend niederließen und warteten. Ringsum brummte London feierlich, aber in der Nähe wurde die Stille nur durch die Geräusche eines Schrittes durchbrochen, der auf dem Boden des Kabinetts hin und her ging.

»So wird es den ganzen Tag laufen, Sir«, flüsterte Poole, »und den größten Teil der Nacht. Nur wenn eine neue Probe vom Apotheker kommt, gibt es eine kleine Pause. Das schlechte Gewissen ist ein Feind der Ruhe! Sir, es wird bei jedem Schritt Blut vergossen! Aber horchen Sie noch einmal genauer – nehmen Sie das Herz in die Ohren, Mr. Utterson, und sagen Sie mir ... ist das der Fuß des Doktors?«

Die Schritte fielen leicht und seltsam, mit einem gewissen Schwung, obwohl sie so langsam gingen. Es war, in der Tat, ganz anders als der schwere, knarrende Tritt von Henry Jekyll.

Utterson seufzte. »Gibt es nie etwas anderes?«, fragte er.

Poole nickte. »Einmal«, sagte er. »Einmal habe ich ein Weinen gehört!«

»Weinen?«, sagte der Anwalt und spürte einen plötzlichen Schauer des Entsetzens.

»Weinen wie eine Frau oder eine verlorene Seele«, sagte der Butler. »Ich bin mit der Gewissheit weggegangen, dass ich auch hätte weinen können.«

Doch nun gingen die zehn Minuten zu Ende. Poole kramte die Axt unter einem Stapel Packstroh hervor. Die Kerze wurde auf den nächsten Tisch gestellt, um ihnen Licht für den Angriff zu geben, und sie näherten sich mit angehaltenem Atem der Stelle, wo der geduldige Fuß in der Stille der Nacht immer noch auf und ab ging – auf und ab.

»Jekyll«, rief Utterson mit lauter Stimme, »ich verlange, Sie zu sehen.« Er hielt einen Moment inne, aber es kam keine Antwort. »Ich warne Sie, unser Verdacht ist geweckt, und ich muss und werde Sie sehen«, fuhr er fort, »wenn nicht mit fairen Mitteln, dann mit faulen – wenn nicht mit Ihrem Einverständnis, dann mit roher Gewalt!«

»Utterson«, sagte die Stimme, »um Gottes willen, habt Erbarmen!«

»Ah, das ist nicht Jekylls Stimme – es ist Hydes!« rief Utterson. »Nieder mit der Tür, Poole!«

Poole schwang die Axt über seine Schulter. Der Schlag erschütterte das Gebäude, und die rot gefrieste Tür sprang gegen Schloss und Scharniere. Ein düsteres Kreischen, wie das eines Tieres, erklang aus dem Kabinett. Wieder hob sich die Axt, und wieder krachten die Paneele und der Rahmen sprang. Viermal fiel der Schlag, aber das Holz war zäh und die Beschläge von hervorragender Qualität. Erst beim fünften Mal zersprang das Schloss, und das Wrack der Tür fiel nach innen auf den Teppich.

Die Belagerer, entsetzt über ihren eigenen Aufruhr und die Stille, die darauf folgte, traten ein wenig zurück und spähten hinein. Da lag das Kabinett vor ihren Augen im stillen Lampenlicht. Ein gutes Feuer glühte und knisterte in der Feuerstelle, der Kessel sang sein dünnes Lied, eine oder zwei Schubladen waren offen, Papiere ordentlich auf dem Arbeitstisch ausgebreitet, und näher am Feuer waren die Sachen für den Tee bereitgelegt. Das ruhigste Zimmer, hätte man sagen können, und abgesehen von den gläsernen Schränken voller Chemikalien, das gewöhnlichste in dieser Nacht in London.

Genau in der Mitte lag der Körper eines Mannes, der schwer verkrümmt war und immer noch zuckte. Sie näherten sich auf Zehenspitzen, drehten ihn auf den Rücken und erblickten das Gesicht von Edward Hyde. Er trug Kleidung, die viel zu groß für ihn war. Kleidung von der Größe des Arztes. Die Falten in seinem Gesicht bewegten sich noch mit einem Anschein von Leben, aber das Leben war gänzlich verschwunden, und durch die zerdrückte Phiole in der Hand und den starken Geruch von Kernen, der in der Luft hing, wusste Utterson, dass er den Körper eines Selbstzerstörers sah.

»Wir sind zu spät gekommen«, sagte er streng, »ob zur Rettung oder Bestrafung. Hyde ist auf seine Rechnung gegangen, und es bleibt uns nur noch, die Leiche eures Herrn zu finden.«

Der weitaus größere Teil des Gebäudes wurde vom Operationssaal eingenommen, der fast das gesamte Erdgeschoss ausfüllte und von oben beleuchtet wurde, sowie vom Kabinett, das an einem Ende ein Obergeschoss bildete und auf den Hof blickte. Ein Korridor verband den Operationssaal mit der Tür auf der Seitenstraße, und das Kabinett war durch eine zweite Treppe mit dieser verbunden. Außerdem gab es noch einige dunkle Schränke und einen geräumigen Keller. Alle diese Räume wurden nun gründlich untersucht. Jeder Schrank bedurfte nur eines kurzen Blickes, denn alle waren leer, und dem Staub, der von den Türen fiel, war zu entnehmen, dass sie schon lange nicht mehr geöffnet worden waren. Der Keller war mit verrücktem Gerümpel gefüllt, das größtenteils noch aus der Zeit des Chirurgen stammte, der Jekylls Vorgänger war. Aber schon als sie die Tür öffneten, wurden sie durch das Herabfallen einer perfekten Spinnwebenmatte, die den Eingang jahrelang verschlossen hatte, auf die Nutzlosigkeit einer weiteren Suche hingewiesen. Nirgendwo gab es eine Spur von Henry Jekyll, weder tot noch lebendig.

Poole stampfte auf die Fliesen des Korridors. »Er muss hier begraben sein«, sagte er, auf das Geräusch lauschend.

»Oder er ist geflohen«, sagte Utterson und drehte sich um, um die Tür in der Seitenstraße zu untersuchen. Sie war verschlossen, und der Schlüssel lag in der Nähe auf den Fliesen und war bereits mit Rost befleckt.

»Sieht nicht aus, als wäre er benutzt worden«, bemerkte der Anwalt.

»Benutzt!«, wiederholte Poole. »Sehen Sie nicht, Sir, dass er zerbrochen ist? Als hätte ein Mann darauf herumgetrampelt.«

»Ja«, fuhr Utterson fort, »und die Bruchstellen sind ebenfalls rostig.« Die beiden Männer sahen sich erschrocken an. »Das ist mir zu hoch, Poole«, sagte der Anwalt. »Lassen Sie uns zurück ins Kabinett gehen.«

Sie stiegen schweigend die Treppe hinauf und untersuchten, immer noch mit einem gelegentlichen ehrfürchtigen Blick auf den toten Körper, den Inhalt des Kabinetts genauer. Auf einem Tisch befanden sich Spuren chemischer Arbeit. Verschiedene abgemessene Haufen eines weißen Salzes, die auf Glasuntersetzer gelegt waren, wie für ein Experiment, an dem der unglückliche Mann gehindert worden war.

»Das ist dasselbe Mittel, das ich ihm immer gebracht habe«, sagte Poole, und noch während er sprach, kochte der Kessel mit einem erschreckenden Geräusch über.

Das brachte sie zum Kamin, wo der Sessel gemütlich hergerichtet war und das Teegeschirr zum Ellbogen des Sitzenden bereitstand; der Zucker in der Tasse. Auf einem Regal standen mehrere Bücher. Eines lag aufgeschlagen neben dem Teegeschirr, und Utterson war erstaunt, darin ein Exemplar eines frommen Werkes zu finden, für das Jekyll mehrfach seine große Wertschätzung zum Ausdruck gebracht hatte und das er eigenhändig mit erschreckenden Lästerungen kommentiert hatte.

Als Nächstes kamen die Suchenden bei ihrem Rundgang durch das Gemach zum Standspiegel, in dessen Tiefe sie mit unwillkürlichem Schrecken blickten. Er war so gedreht, dass sie nichts anderes sahen als den rosigen Schein, der auf dem Dach spielte, das Feuer, das in hundertfacher Wiederholung an der verglasten Front der Schränke funkelte, und ihre eigenen blassen und ängstlichen Mienen, die sich beugten, um hineinzuschauen.

»Dieses Glas hat schon seltsame Dinge gesehen, Sir«, flüsterte Poole.

»Und sicherlich nichts Seltsameres als sich selbst«, erwiderte der Anwalt im gleichen Ton. »Was hat Jekyll«, er fing sich bei dem Wort mit einem Schreck auf und überwand dann die Schwäche, »was könnte Jekyll damit wollen?« sagte er.

»Das dürfen Sie sagen!«, sagte Poole.

Dann wandten sie sich dem Arbeitstisch zu. Auf dem Schreibtisch, inmitten einem Stapel Akten, lag ein großer Umschlag, der, geschrieben in der Hand des Arztes, den Namen von Mr. Utterson trug. Der Anwalt öffnete ihn, und mehrere Beilagen fielen auf den Boden. Das erste war ein Testament, das in denselben exzentrischen Formulierungen abgefasst war wie das, das er sechs Monate zuvor zurückgegeben hatte, und das als Testament für den Todesfall und als Schenkungsurkunde für den Fall des Verschwindens dienen sollte. Doch anstelle des Namens von Edward Hyde las der Anwalt mit unbeschreiblichem Erstaunen den Namen Gabriel John Utterson. Er blickte zu Poole, dann wieder auf das Papier und zuletzt auf den toten Übeltäter, der auf dem Teppich lag.

»Mir schwirrt der Kopf«, sagte er. »Es befand sich all die Tage in seinem Besitz. Er hatte keinen Grund, mich zu mögen. Er muss wütend gewesen sein, sich selbst verdrängt zu sehen. Und trotzdem hat er dieses Dokument nicht vernichtet.«

Er nahm das nächste Papier in die Hand. Es war eine kurze Notiz in der Hand des Arztes und oben datiert. »O Poole!«, rief der Anwalt, »er war am Leben und an diesem Tag hier. Er kann nicht in so kurzer Zeit beseitigt worden sein; er muss noch am Leben sein, er muss geflohen sein! Aber warum ist er geflohen? Und wie? Und können wir es in diesem Fall wagen, dies als Selbstmord zu bezeichnen? O, wir müssen vorsichtig sein. Ich sehe voraus, dass wir deinen Herrn noch in eine schreckliche Katastrophe verwickeln könnten.«

»Warum lesen Sie es nicht, Sir?«, fragte Poole.

»Weil ich Angst habe«, antwortete der Anwalt feierlich. »Gebe Gott, dass ich keinen Grund dazu habe!« Und damit hielt er sich das Papier vor die Augen und las wie folgt:

»Mein lieber Utterson – wenn dies in Ihre Hände fällt, werde ich verschwunden sein, unter welchen Umständen, vermag ich nicht vorauszusehen, aber mein Instinkt und alle Umstände meiner namenlosen Lage sagen mir, dass das Ende sicher ist und bald eintreten muss. Gehen Sie also und lesen Sie zuerst den Bericht, den Lanyon mir ankündigte, in Ihre Hände zu legen, und wenn Sie mehr hören wollen, lesen Sie das Geständnis
Ihres unwürdigen und unglücklichen Freundes – Henry Jekyll.«

»Es gab noch eine dritte Anlage?« fragte Utterson.

»Hier, Sir«, sagte Poole und drückte ihm ein beachtliches, an mehreren Stellen versiegeltes Päckchen in die Hand.

Der Anwalt steckte es in seine Tasche. »Ich möchte nichts über dieses Papier sagen. Wenn Ihr Herr geflohen oder tot ist, können wir wenigstens sein Ansehen/Ehre retten. Es ist jetzt zehn Uhr. Ich muss nach Hause gehen und diese Dokumente in Ruhe lesen. Ich werde vor Mitternacht zurück sein; dann werden wir die Polizei rufen.«

Sie gingen hinaus und schlossen die Tür des Operationssaals hinter sich. Utterson ließ die Dienerschaft noch einmal um das Feuer in der Halle versammelt zurück und stapfte in sein Büro, um die beiden Berichte zu lesen, in denen dieses Geheimnis nun erklärt werden sollten.